Igor, 35 Jahre

Ursprünglich Matrose, ist Igor Antonov heute Fahrer des Nachtbusses.
Von Montag bis Freitag kämpft Igor gegen den aggressiven petersburger Verkehr, um von einem Verteilort zum nächsten zu gelangen. Er durchquert dabei die Stadt von den südlichen bis zu den nördlichen Quartieren, um mit seiner Camionnette die Verteilung der Lebensmittel-Hilfe an die Obdachlosen ohne Papiere sicherzustellen.

Noch gar nicht so lange her, war Igor in seinem früheren Leben Matrose. In seinem Kopf ist er es immer noch mehr oder weniger.

Wie gelangt man vom Deck eines Schiffes zur Hilfe an die Obdachlosen? Igor erzählt uns darüber.

Die Bügelfalte in der Hose
Bei mir in Leningrad (heute St. Petersburg) ist es keine Frage, ob ich Matrose bin. Bei uns wird dies von Vater zu Sohn weitergegeben. Mein Vater starb, als ich im ersten Studienjahr war. Er hatte aber noch Zeit, mir beizubringen, wie man eine Matrosenhose richtig bügelt, damit die Falte noch lange einwandfrei bleibt.
Meinen Vater sah ich nur sehr selten, stets war er auf Reisen. In Matrosenfamilien ist es üblich, dass die Mutter die Kinder alleine aufzieht.

Auf lange Sicht Matrose
Im Alter von 18 Jahren ging ich zur See, meistens auf Trawlers. Zehn Jahre lang habe ich der Meeresdünung getrotzt. Ich habe das Meer immer geliebt. Es ist eine einfache Art, zu leben.
Wenn man an Land ist, hat man eine Menge bürokratischer und staatlicher Verpflichtungen. Auf dem Wasser ist man frei, nur die Schiffsregeln gelten.
Die Entscheide werden für einen gefällt, dazu erlebt man eine Menge Abenteuer. Man ist wie auf Schienen.
Es hat eine ganze Weile gedauert, um auf festen Boden zurückzukehren.

Ein neuer Kurs
Anfänglich hatte ich keine Ahnung, welche Art von Job ein gelandeter Matrose finden könnte. Ich habe an der Universität Kurse für Spezialpädagogik besucht und mich dabei auf Spezialpsychologie und adaptiven Sportunterricht (Rehabilitation behinderter Personen und Sonderpflege für Kinder) konzentriert. Ich wurde direkt im zweiten Studienjahr aufgenommen, es war der Beginn einer neuen Existenz.
Ich wurde zugleich Hilfssanitäter und habe oft medizinische Hilfe geleistet.
So keimte der Wunsch, den Leuten zu helfen. Je grösser dieser Wunsch gedieh, desto besser fühlte ich mich auf diesem festen Boden.

So wie jedermann, hatte auch ich meine Vorurteile gegenüber den Obdachlosen
Als ich erfuhr, dass Nochlezhka einen Chauffeur für den Nachtbus sucht und dass die Arbeit den grossen Teil meiner Kenntnisse umfasst, habe ich umgehend zugesagt. Was mich immer noch überrascht, ist die grosse Zahl qualifizierter obdachloser Personen, die ich beim Verteilen der Lebensmittel antreffe.
Ich war mit Englischprofessoren, Spezialisten für Börsentransaktionen, Spezialisten der Geschichte des Mittelalters, Ärzten, Artisten, Armeeangehörigen zusammen.

Dies zeigt, dass niemand vor dem Verlust der internen Passes (Propiska) in Sicherheit ist.
Viele wurden in Immobilientransaktionen übers Ohr gehauen, durch den Staat, die Familie.
Viele leben auf der Strasse, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Das ist schlimm. All jene, die einem problemlosen Tagesablauf nachgehen, denken, dass man selbst schuld daran ist, wenn man obdachlos wird. Ein schwerer Fehler, beruhend auf schrecklicher Unkenntnis der Problematik.

Sie können uns vertrauen
Eines der Geheimnisse von Nochlezhka ist, dass wir nie irgendwelche Gegenleistung für Unterkunft, Verpflegung, Unterstützung durch Advokaten oder Psychologen verlangen.
Die Obdachlosen wissen, dass sie sich auf unsere Organisation verlassen können. Wenn wir beispielsweise auf einem Bauernhof Arbeit für sie finden, wissen sie, dass dies nicht eine Form von Sklavenarbeit sein wird, oder auch, dass wir sie nicht zu einer Sekte schicken. Wenn wir versprechen, dass wir ihnen helfen, so helfen wir ihnen. Die ist unter den Hilfsorganisationen nicht immer so.

Wo ist die Falle?
Bei unseren Stops mit dem Nachtbus werde ich manchmal gefragt „wo ist die Falle?“
Meine Antwort ist nur, dass es keine gibt. Heute helfen wir Euch, helft morgen den andern. Nachdem ich die Welt gesehen habe, verstehe ich den Obdachlosen, wenn er mir sagt, er brauche keine Hilfe. Das geschieht sogar, wenn er in erbärmlichen Verhältnissen lebt.
In diesen Fällen zwingen wir ihn zu nichts. Wir versichern ihm, ihn zu respektieren. Gleichzeitig schlagen wir ihm einen andern Tagesverlauf vor. Dies ist unsere Aufgabe.

Skeptisch
Wie soll der Obdachlose uns am Anfang vertrauen, nachdem er durch die Gesellschaft hereingelegt wurde, im Gefängnis sass, an ungesunden Orten schlief und mit weniger als nichts überlebte?
Es dauert manchmal eine ganze Weile, bis er sich bewusst wird, dass wir keine Interessen verfolgen, dass unsere Hilfe täglich, repetitiv ist, dass wir zusätzlich zum Nachtbus verschiedene Lösungen anbieten, um aus der missliche Lage zu kommen.

Viele Einwohner denken, dass unsere Arbeit darin besteht, Parasiten, Alkoholiker oder Drogensüchtige zu produzieren.
Diese Denkweise zeigt, dass diese Leute keinerlei Verständnis für den andern haben, für seine Schicksalsschläge, die ihn zerstörten.

Wie kannst Du diese Art von Arbeit machen?
Diese Frage höre ich oft. Einige Freunde verstehen dies auch nicht.
Ich erkläre es ihnen.
„Hört mal, ich selbst verstehe nicht, wie man Metrofahrer, Beamter, Serienarbeiter sein kann. Ich verstehe nicht einmal, wie meine Frau als Kartografin arbeiten kann. Ich fühle mich wohl mit dem, was ich mache. Dies vielleicht auch, weil ich Mühe habe, in der „modernen oder normalen Welt zu leben“.
Meine Frau und ich lieben es, auf dem Land zu leben, Gemüse anzubauen, wilde Gänse zu züchten, Bienen zu haben, dass unsere Kinder nicht in der Stadt wohnen.

 

nochlejka_i-9-of-58-1024x683