Veronika

Eine Mutter ohne Dokumente
Die Geschichte von Veronika, einer 32-jährigen Mutter mit ihren Töchtern Olga (2 Jahre) und Nastja (1 Jahr) gäbe eine gute Grundlage für das Drehbuch eines dramatischen Filmes ab.

Im Frühling 2000 verliess Veronika ihren Heimatort Pustochka, im Oblast’ Pskov, den verlockenden wirtschaftlichen Möglichkeiten der nördlichen Hauptstadt (Sankt Petersburg) zuliebe.
Der Moskauer Bahnhof in  Sankt Petersburg ist ein Ort der Menschenmengen und der Eile. Es war nur ein kleiner Moment der Unachtsamkeit, und schon nahm das Schicksal von Veronika eine radikale Wende. Ihr wurde der Koffer gestohlen, in dem sich all ihre Sachen befanden – Kleider, Geld, und am allerschlimmsten: die Dokumente.

Der Verlust der eigenen Dokumente, Geschehnis eines einzigen Augenblickes, bedeutet in Russland die Aufgabe der Existenz.

Veronika verliess das Bahnhofsgelände zunächst nur selten. Ihr erster Wohnort war sozusagen vor den Kulissen des Moskauer Bahnhofs. Auch das Treffen mit dem 64-jährigen Andrej fand hier, unter dem Pfeifen der Vorstadtzüge, statt. Eines Tages wurden sie im Wartesaal aufeinander aufmerksam, und Andrej versprach, nach der Arbeit zurückzukehren. Tatsächlich hielt er sein Wort, und Veronika zog zu ihm, in seine Kommunalwohnung.

Eine inoffizielle Schwangerschaft
Veronika erzählt von dem Teufelskreis ihrer ersten Schwangerschaft:
“Ich hatte nie die Möglichkeit, gratis einen Gynäkologen aufzusuchen. Dafür hätte ich eine Versicherungsbestätigung gebraucht. Dieses Dokument hätten für das Kind auch Zugang zu einer Krippe, zu kostenloser, medizinischer Hilfe und das Recht auf russische Staatsbürgerschaft erlaubt. Obwohl meine Schwangerschaft offensichtlich war, existierte ich theoretisch nicht. Hie und da musste ich eine Hebamme bezahlen, um zu überprüfen, ob die Schwangerschaft normal verlief.“

Am Tag der Geburt brachte man Veronika zur Notfallstation, dem einzigen Ort, an dem man sich um gebärende Frauen, ohne Dokumente kümmert.
Aber auch dort fühlte ich mich nicht als Mensch, ich durfte die Geburt meiner Tochter nicht registrieren lassen. Für das Krankenhauspersonal hat meine Tochter Olga, unbeachtet ihrer ersten Schreie, nicht existiert. Vergeblich habe ich sie angefleht, ihnen das neugeborene Kind gezeigt. Nichts hat geholfen. Offiziell ist Olga nicht zur Welt gekommen.“

Die Adresse der Hoffnung „Nochlechka“
Bei der zweiten Geburt ereignete sich dasselbe Szenario. Dazu kommt, dass es dem Vater nicht möglich ist, seine eigenen Kinder anzuerkennen. Nicht einmal eine Ehe mit Veronika kann er eingehen. Eines Tages traf Veronika auf dem Bahnhof einen Freund, der sie eine nützliche Adresse aufmerksam gemacht hat: „Geh zu Nochlezhka, da wird man dir endlich helfen.“
Die Vereinigung „Nochlezhka“ konnte den beiden Mädchen ein Ersatzdokument für die Registration geben, eine Krankenschwester konnte die beiden medizinisch untersuchen, und der Familie wurden Kleider gegeben. Dank diesem Dokument, erhalten nun Mutter und Kinder humanitäre Hilfe, in Form von Lebensmittel, die die Wohltätigkeitsorganisation „Caritas“ zur Verfügung stellt.

Ohne Schule, ohne medizinische Hilfe, ohne Zukunftsperspektiven für Kinder von Sans-Papiers
Heute lebt Veronika mit ihren Kindern in einer kleinen 15m2 – Wohung, in der es kaum genügend Platz hat für das Ehebett, das Nachttischchen, das Kinderbett, den Fernseher, das Schränkchen für Lebensmittel, ein paar Stühle, ein Heizgerät und ein wenig Spielraum für Olga und Nastja.
Das Geld, das Andrej verdient, reicht knapp aus für die Wohnungsmiete und manchmal für den Kauf von Pampers. Doch ständig werden sie von dieser einen Angst verfolgt: “Sobald jemand krank wird, wäre das eine echte Katastrophe.
Was die Kinderkrippe und die Schule betrifft, darüber denkt man besser gar nicht nach.

Im Lande der Sans-Papiers bleibt diesen Mädchen keine grosse Hoffnung auf eine Zukunft.