Sergueï

“In Russland kann, durch diesen Papierkrieg, ein kleines Nichts zu einer Katastrophe werden”
Sergej Barbarica ist 1962 in Leningrad geboren, hat von da an in Petersburg gewohnt und eine glückliche und normale Kindheit erlebt. 

Nach der Schulzeit tritt er ins Militär ein, wo er sich 1981 als Grenzwächter an der sowjetisch-finnischen Grenze wiederfindet. Zwei Jahre später abolviert er in der Militärschule eine Kaderausbildung und landet an der iranischen und an der afghanischen Grenze. 12 Jahre leistet er Dienst bis zu dem Tag, an dem er von seinem Urlaub profitierend mit einem Freund in die Ukraine zu dessen Familie fährt. Sergej erleidet einen schweren Unfall und kann seinen Job nicht wieder aufnehmen.

Wir schreiben das Jahr 1993 und befinden uns mitten im Jelzinschen Debakel.
Sergej versucht sich zu erinnern und streicht dabei über seinen Bart : «Ich habe keine Arbeit, die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Ich bekomme keine Rente, da mein Unfall aus-serhalb der Arbeitszeit passiert ist. Meine Freundin verlässt mich, als ich im Spital lande. Unsere Wohung überlasse ich ihr und verliere damit meine « Propiska ». Ich komme bei Freunden unter, da es ohne dieses verfluchte Papier unmöglich ist, eine Wohnung zu finden. Immerhin finde ich dank meiner guten Fahrzeugkenntnisse eine Arbeit. »

Sergej lernt Irina kennen, eine geschiedene Frau, und zieht in ihre Wohnung ein. Irinas Kinder leben bei ihrem Vater. Sergej und Irina heiraten nicht, sie ziehen es zwar in Betracht, entscheiden aber, dass sie noch genug Zeit haben. Irina ist 44 Jahre alt, als sie plötzlich an einer Apoplexie stirbt. Sergej und Irina haben zehn Jahre zusammen gelebt. Irinas Exmann und die Kinder nehmen die Wohnung an sich und Sergej landet erneut auf der Strasse und in der unbarmherzigen Realität.

« Ich kannte Nochlezhka, da ich im Fernsehen eine Sendung über diese Organisation gese-hen hatte. Bevor ich ihr Zentrum aufsuchte, lebte ich teilweise bei früheren Kollegen aus dem Militär, meistens aber unter freiem Himmel. Ausserdem hat man mir eines Tages meine Tas-che mit den wenigen offiziellen Dokumenten, die ich noch hatte, geklaut », sagt er uns mit bitterem Blick.

Sergej wohnt seit Oktober bei Nochlezhka und wartet darauf, dass seine Papiere wieder auftauchen.

« Dank Nochlehka werde ich wieder arbeiten »
In Tat und Wahrheit ist er invalid, Nochlezhka hat bereits in die Wege geleitet, dass ein Zerti-fikat ihm dies attestiert. Die gute Nachricht ist, dass seine Art von Invalidität es ihm trotzdem ermöglicht, eine Arbeit anzunehmen.
Seit 2005 sind in St.Petersburg Unternehmen mit mehr als 100 Angestellten verpflichtet, In-valide anzustellen.

Im April wird Sergej einer erneuten medizinischen Untersuchung unterzogen, damit seine Behinderung endlich permanent anerkannt wird. Ausserdem hat er beinahe Arbeit gefunden als Büroverantwortlicher in der Redaktion der Zeitschrift « Der neue Arzt », wo man bereit ist, ihn offiziell anzustellen – auch ohne « Propiska ».
Noch immer seinen Bart streichend schliesst Sergej mit folgenden Worten : « Nun sehen sie, durch welche Galeeren ich gegangen bin. Und all das nur wegen einem Unfall und einer ver-lorenen Liebe… In Ihrem Land würde das kaum Konsequenzen haben, in Russland mit sei-ner Bürokratie aus längst vergangener Zeit kann aus einem kleinen Nichts leicht eine Katas-trophe werden