Interview Alexander Sokurow

Nochlezhka hat kürzlich den russischen Filmemacher Alexander Sokurow getroffen, um mit ihm über die Situation der obdachlosen Sans-Papiers in Russland zu diskutieren. Alexander Sokurow hat 2011 an der Mostra in Venedig mit seinem Film «Faust» den  goldenen Löwen gewonnen.

Ein leider exemplarischer Fall

Nochlezhka: Als Einleitung möchte ich Ihnen die Geschichte von Frau Liudmila Michailowna erzählen, welche wir in unserem Heim aufgenommen haben. Ein durch und durch repräsentatives Schicksal, welches die russischen Bürger ereilt, wenn sie ihre Propiska verlieren.
Frau Liudmila Michailowna ist in einer alltäglichen Familie aufgewachsen, heiratete mit 19 Jahren und hat  einen Sohn. Nach der Scheidung ist sie zu ihren Eltern zurückgekehrt, die in einer Wohnung leben, welche dem Staat gehört.
Liudmila Michailowna arbeitete in einer Fabrik für Parfümerie-Artikel. Dem Rat eines Freundes ihres Sohnes folgend, ist sie nach Sankt-Petersburg umgezogen, um sich um eine betagte Person zu kümmern, welche ihr nach Aussage des Freundes die Wohnung überlassen wird.

Dort angekommen, erhält sie alarmierende Informationen über ihre Wohnung und ihren Sohn: ohne Arbeit bringt dieser zweifelhafte Personen nach Hause und führt ein ausschweifendes Leben. Später erfährt sie, dass ihr Sohn im Spital an den Folgen eines ärztlichen Fehlers gestorben ist.
Sie kehrt umgehend zurück und muss feststellen, dass ihr Sohn während ihrer Abwesenheit die Wohnung verkauft hat und seine Habseligkeiten auf die Strasse geworfen wurden. Alle Ausweise waren verschwunden, vom Freund des Sohnes gestohlen. Im Schockzustand denkt sie leider nicht daran, sich an die Polizei zu wenden und landet dadurch sehr schnell auf der Strasse.

Die Gleichgültigkeit und das kulturelle Niveau der Beamten zerstört das Leben der Leute

Nochlechka: Denken Sie, dass es möglich wäre, auf staatlicher Ebene eine Art Versicherung einzurichten, um bei betrügerischen Immobilien-Transaktionen die Opfer zu schützen, damit sich diese nicht auf der Strasse befinden?

Sokurow: Der Fall, den Sie beschreiben, ist ein klassisches Beispiel einer Übertretung des Gesetzes durch den Sohn dieser Frau – Gott hat ihn bereits für seine Tat bestraft. Jeder Bürger muss äusserst vorsichtig sein, wenn es um seine Unterkunft geht. Der Staat könnte wohl ein Gesetz erlassen, die Ursache dieser tragischen Situationen wird aber immer die menschliche Dummheit bleiben.
Der Staat kann Betrügereien nie endgültig ausmerzen. Die Gesetze bleiben wirkungslos ohne Fortschritte der Bevölkerung auf dem zivilen und sozialen Gebiet. Immobilien-Betrug muss als sehr schwerwiegendes Delikt betrachtet werden. Jede Immobilien-Transaktion muss im Beisein eines Richters und aller Familienmitglieder abgewickelt werden. Sie darf nicht schnell vor einem Notar erfolgen. Man sollte ein spezielles Gericht für diese Art von Geschäften schaffen.
Ich kann dem Staat die Existenz der Obdachlosen nicht verzeihen. Die Gleichgültigkeit und das kulturelle Niveau der Funktionäre ruiniert das Leben der Leute.

Nochlechka: Gemäss unseren Statistiken sind 40% der Sans-Papiers Opfer ihrer eigenen Familien. Denken Sie, dass dies ein Zeichen der Zerstörung der Institution «Familie» in Russland ist?

Sokurow: Es ist dies der Beweis der Hartherzigkeit der Leute. Dieses Phänomen ist in allen Ländern feststellbar. Sie trifft insbesonders Personen in unteren sozialen Schichten.
In Russland leben besonders alte Leute in der Illusion, dass ein Staat existiert, der sie in einem Unglücksfall schützt. Man darf nicht vergessen, dass es in den Zeiten der UdSSR – weder in der Theorie noch in der Praxis – undenkbar war, dass sich jemand auf der Strasse befindet. Die Leute haben sich nicht verändert, dagegen hat sich der Staat verändert: er hilft Personen in Not nicht mehr.

Die Verantwortung der Städte

Nochlechka: Wenn die Russen nicht mehr auf ihren Staat zählen können, auf wen können sie denn sonst noch zählen?

Sokurow: Einzig und allein auf sich selbst und auf ihre Vernunft. Das ist einfach gesagt, es gibt doch unzählige Situationen, in denen die Leute mit ihrem Unglück allein gelassen werden. Unser System der Verwaltungen ist überhaupt nicht transparent. Sogar mein Ruf und die Tatsache, dass ich dem Gemeinderat und der Staatsanwaltschaft angehöre, verhindern nicht, dass ich wiederholt Probleme mit der Hausverwaltung habe.

Nochlechka: Wer soll den Sans-Papiers und den Obdachlosen helfen? Die karitativen Organisationen?

Sokurow: Dies ist allem voran die Verantwortung der Städte. Jede Stadt, gross oder klein, muss die Namen aller Personen kennen, die sich auf ihrem Territorium in Not befinden.
Dies ist nicht so kompliziert. Wenn die Stadt diesem Punkt mehr Aufmerksamkeit schenkte, könnte sie die Ausweisproblematik lösen und Unterkünfte zur Verfügung stellen. Die Sozialämter müssen mit Euch, den karitativen Organisationen zusammenarbeiten. Sie dürfen Euch nicht im Stich lassen, vor allem nicht im Winter, wenn Ihr die Brosamen sammelt, um die Obdachlosen zu ernähren.
Dies müsste eine spezifische Aufgabe der Stadt sein. Der Sozialbereich sollte keine Engpässe kennen, jedes Quartier müsste eine Nachtunterkunft haben, die für alle geöffnet ist. Man muss sich zwingend um die soziale Anpassung der Obdachlosen kümmern.
Natürlich gibt es Personen, bei denen es nutzlos ist, irgendwelche Änderung vorzusehen. Nur Gott kann sich um ihr Schicksal kümmern.
Ich bin aber überzeugt, dass die Mehrzahl der Obdachlosen in ein normales Leben zurückkehren können. Man muss nur das dazu notwendige System aufbauen und unterhalten.

Nochlechka: Was fehlt in Russland, um dies zu verwirklichen?

Sokurow: Die Japaner sagen, dass man Gott darum bitten muss, dass er uns Intelligenz und gesunden Menschenverstand gibt. Sonst nichts. Die Russen haben zuwenig davon, das ist ihr Problem.
Wären sie intelligenter, wären sie auch gütiger. Wie ist es möglich, eine alte Person auf der Strasse zu lassen? Dies ist der Fehler des Staates.

Kein Film über die Obdachlosigkeit, zum verrückt werden.

Nochlechka: In ihrem Beruf beschäftigen Sie sich nicht mit den Obdachlosen, obwohl Sie sehr gut darüber informiert sind.

Sokurow: Aber dies ist doch mein Land! Ich habe einen russischen Pass, ich bin Russe. Ich sehe, wie meine Mitbürger leben. Das ist mir nicht egal. In meinem Beruf können mir diese Probleme nicht gleichgültig sein. Sie treffen mich in meinem Herzen und in meinem Geist.
Das Thema meiner Arbeit ist der Mensch und die Zustände, in denen er sich befindet.
Ich drehe keinen Film über die Oblachlosigkeit, weil ich wütend bin. Ich befürchte, in meinen Werken zu brutal und zu grob zu werden. Ich kann dem Staat die Existenz der Obdachlosen und die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber nicht verzeihen. Ich bin mir bewusst, dass ich Fehler mache und mein Gleichgewicht verliere, wenn ich unter dem Einfluss einer solchen Wut handle.
Für mich ist klar, dass es auf diesem Gebiet keinerlei Geheimnisse, keine unlösbaren Probleme gibt. Weshalb gibt es solche bei den Beamten? Zweifellos infolge ihrer Gleichgültigkeit.

Nochlechka: Sind Sie der Ansicht, dass die russische Gesellschaft bereit ist für die Nächstenliebe?

Sokurow: Nein, nein und nochmals nein. Moralisch ist die Bevölkerung noch nicht reif. Zudem gibt es in Russland keine Gesetze über die Wohltätigkeit. Wenn ich in verschiedenen Instanzen herausfinden will, weshalb die Duma (das russische Parlament) kein solches Gesetz erlässt, stopft man mir den Mund. Die Personen in den höchsten Stellen sagen: «ein solches Gesetz gibt es nicht und wird es nicht geben»
Auf meine Frage «weshalb» geben sie keine Antwort. Jetzt werden sie vermutlich die Krim mit Nahrung, Kleidern und Schuhen versorgen…. Die «Notschleschkis», Notschlafstellen werden ihre letzte Sorge sein.
Nein, die soziale Situation ist wirklich nicht gut.