Alexander Drus

Alexandre Grouz.jipegUm die Meinung russischer Persönlichkeiten bezüglich Obdachlosigkeit in ihrem Land herauszufinden, führt Nochlezhka die Interview-Serie dazu fort.
Nach dem Filmemacher Alexander Sokurov und dem Schriftsteller, Journalisten und Sprachwissenschafter Sachar Prilepin ist die Reihe heute an Alexander Drus, Autor und Animator von kognitiv-intellektuellen Fernsehsendungen.

Die Korruption ist mehr als 400 Jahre alt

Als Einführung hat ihm Nochlezhka die Geschichte einer Mutter erzählt, die ihre Wohnung und ihr Unternehmen verkaufen musste, um die Polizisten bestechen zu können, damit diese ihren in Intrigen verwickelten Sohn freigeben. Nach seiner Freilassung hat sich der Sohn ins Ausland abgesetzt, seine Mutter landete bei Nochlezhka.

Alexander Drus: Weshalb haben die Polizeikräfte Geld verlangt? Das ist Korruption.

Nochlezhka: Ja, aber oft sind die Angehörigen zur Zahlung bereit, um ihre Nächsten frei zu bekommen. Die Frage stellt sich, wo die Verantwortung der Eltern für ihre bereits erwachsenen Kinder aufhört und wer für ihre Taten eigentlich verantwortlich ist.

AD: Schwierige Frage. Die Familie – sie ist eine Art Organismus und es ist nicht einfach, wann der Kopf aufhören muss, sich um Arme, Beine, etc. zu kümmern.
Wenn die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern gut sind und auf gegenseitiger Liebe und Verantwortung beruhen, ist die Antwort – nie.

N: Wie kann diese Verantwortung eingeflösst werden? Was müssen die Eltern tun?

AD: Zuerst müssen sie sich selbst verstehen, so wie es im Gedicht des Poeten Maiakowski steht: was ist gut und was schlecht; und dies den Kindern erklären. Die Erklärungen selbst genügen noch nicht, sie müssen einer Lebensweise entsprechen.
Wenn die Eltern ihren Kindern klarmachen wollen, dass Diebstahl eine Sünde ist und sie selbst stehlen, sind alle Erklärungen nutzlos. Die Kinder begreifen sofort, wie sich ihre Eltern benehmen, dies ist wichtiger als alle schönen Worte.

N: Und die Rolle der Gesellschaft, ihr Einfluss? Kann sie dem widersprechen, was man zu Hause lernt?

AD: Der Einfluss der Gesellschaft ist viel geringer als jener der Familie. Auch wenn Engels sagt, sie sei nur die Zelle der Gesellschaft, so ist sie doch deren Basis. Hier lernt das Kind die grundlegenden Umgangsformen mit der Umwelt und je mehr es erwachsen wird, desto wichtiger ist die Rolle der Familie. Die Eltern, welche annehmen, dass mit dem Schuleintritt die Ruhe zurückkommt und sie sich nicht mehr um die Erziehung des Kindes kümmern müssen, sind auf dem Holzweg. Wenn Du willst, dass dein Kind eine gute und korrekte Person wird – musst Du dich mit ihm beschäftigen.

Ungerechtigkeiten wird es immer geben

N: Die Gründe der Obdachlosigkeit, darunter der Immobilienbetrug, sind zahlreich. Kann der Staat ein wirksames System einführen, um die Immobilientransaktionen sicher zu machen?

AD: Soviel ich weiss, existiert ein solches System, es ist jedoch kosten- und zeitintensiv. Um nicht Opfer für Gewinne und menschliche Dummheiten zu werden, muss man sich an zuverlässige Juristen wenden. Deren Leistungen sind aber nicht kostenlos. Man muss jeden Schritt auf allen Gebieten beherrschen. Dies gilt auch für alle Beziehungen, die familiären inbegriffen.
Man muss sich auf seinen Partner verlassen können und sich um die Erziehung seiner Kinder kümmern, die Motivationen der Leute verstehen. Dies ist nicht einfach und verlangt eine gewisse Erfahrung. Aber niemand sagt uns, dass das Leben einfach sei, man muss die Schwierigkeiten überwinden, hier liegt der ganze Charme des Lebens. Der Staat kann sich nicht um jeden einzelnen von uns kümmern, wir müssen ihn dabei unterstützen. Unsere Möglichkeiten sind jedoch beschränkt, man muss sie bestmöglich nutzen. Die Lebensläufe der Obdachlosen sind traurig. Zum Glück gibt es Organisationen wie Sie und Leute, die Ihnen helfen. Das Leben ist ungerecht und wird es trotz einigen Fortschritten immer bleiben.

N: Sie sprechen nicht von einem Universitäts-Studium, sondern von einer existenziellen Weisheit. Woher kommt sie?

AD: Ein Universitäts-Studium hängt nicht direkt mit der Vernunft, der Weisheit zusammen. Erziehung vermittelt lediglich Kenntnisse, man muss wissen, wie diese anzuwenden sind. Man kann sehr kultiviert sein und ein Odiot bleiben, und umgekehrt.

N: Oft haben die Leute keinen Zugang zu den staatlichen Sozialdiensten wegen der sehr grossen Zahl an verlangten Unterlagen und Bescheinigungen, der Registrierung an einem bestimmten Ort oder wegen des letzten Ortes der Registrierung im Falle der Obdachlosen.
Die ihnen zustehende Hilfe ist für sie unerreichbar und kostet den Staat sehr viel. Die bedeutend flexibleren und effizienteren Wohltätigkeits-Organisationen können diese staatlichen Mittel nicht benützen.

AD: Man hat sowieso Probleme mit der Bürokratie. Leider ist die Organisationsstruktur noch nicht an die neuen Bedingungen angepasst, obwohl uns im 21. Jahrhundert die Technologien erlauben, praktisch jeden Teilschritt direkt zu verfolgen. Der Staat trifft gewisse Massnahmen, um das Leben der Leute zu erleichtern; der Kommunikationsprozess zwischen ihnen und dem Staat – zum Beispiel via das Portal «Gosservices» (Dienste des Staates) – erlaubt, bestimmte Probleme zu lösen.
Die Partnerschaft zwischen dem Staat und dem Privatsektor – dies ist eine vielversprechende Richtung in diesem Bereich. Es gibt nicht wenige Organisationen wie ihre, die sich sehr effizient diesen Problemen annehmen, eine umfangreichere Zusammenlegung der finanziellen Mittel wäre aber wünschenswert. Trotz der seit 400 Jahre alten Korruption muss man Experimente wagen.

Man darf nicht nehmen, was dem andern gehört

N: Was ist aus ihrer Sicht der Ausgangspunkt der Korruption in Russland?

AD: Die Regierungszeit der Romanov – die Löhne sind nicht bezahlt, die «voivodes» (Militärchefs, Provinzgouverneure) erhalten Verpflegung und Unterkunft. In der Folge werden diese Praktiken von Menschikov angewandt. Er schlug vor, keine Löhne mehr zu bezahlen, die Angestellten sollen von den Bestechungsgeldern leben. Das Verhalten der Leute ändert nur langsam. Beben und Schöcke sind nötig, um diese Mentalität zu ändern. Trotz unserer strengen Gesetze kann nicht jede einzelne Person von einem Polizisten überwacht werden.

N: Kann man sich verbessern?

AD: Ja sicher, wenn jeder langsam begreift, dass man nicht einfach nimmt, was jemand anderem gehört, selbst wenn es jemand verloren hat und man es findet. Man darf nichts nehmen, was einem nicht gehört.

N: Was muss passieren, damit dieser Wandel in jedem von uns stattfindet?

AD: All jene, die an Gott glauben, sollten begreifen, dass man sich nichts aneignen darf, was einem nicht gehört, dass dies sündhaft ist und bestraft wird. Die Nichtgläubigen sollten begreifen, dass etwas unsere Welt vom Untergang abhält. Man kann es ganz verschieden nennen – globale Intelligenz, universelle Gerechtigkeit, Gesetz des Schicksals. Wenn Du dich nicht an diese Gesetze hältst, wird Dir früher oder später Unheil zustossen.

N: Oft gestehen Untergebene ein, dass sie die Augen schliessen oder notwendigenfalls etwas unterschreiben, weil das System es so will und andernfalls der Chef unterschreibt, wenn man sich weigert. Anders ausgedrückt wird der Mitarbeiter «unerwünscht» und wird entlassen. Er wird sich den Vorschriften beugen, weil «man das System nicht ändern kann».

AD: Das sind eigenartige Argumentationen, es gibt immer ein Mittel, um ehrlich zu bleiben. Niemand kann Dich zwingen, zu stehlen. Du musst Dich nur anstrengen. Wenn dein Chef entlassen wird oder in Pension geht, übernimmst Du seinen Platz und stellst ehrliches Personal ein. Voltaire sagt: «Man muss seinen Garten anbauen».

Es gibt immer ein Mittel, um ehrlich zu bleiben

N: Wie schätzen Sie das Niveau der Barmherzigkeit in der russischen Gesellschaft ein?

AD: Man hat die alte Tradition der karitativen Taten komplett verloren, die Gründung von Wohltätigkeitsheimen, Erziehungsprojekte und den Unterricht. Unsere Reichen haben noch keinen Geschmack an all dem gefunden.

N: Und wie entwickelt sich dieser Geschmack, von dem Sie sprechen?

AD: Indem Du begreifst, dass Du von deinesgleichen umgeben bis, dass Du kein Supermensch bist.

N: Kommt das mit dem Alter?

AD: Ich weiss nicht. Zu Beginn musst Du begreifen, dass deine Angestellten Leute sind wie Du, dass man ihnen menschenwürdige Lebensbedingungen bieten muss. Und noch eine ganz simple Idee, die aber nicht allen einleuchtet: wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft zufrieden sind und das Leben dieser Gesellschaft in Ruhe verläuft, ist dies der Verdienst der ganzen Business-Entwicklung.
Bei uns haben aber nicht alle begriffen, dass man nicht hinter Gitter leben kann, beschützt von Wächtern und man dabei machen kann, was einem gefällt. Früher oder später können Dich die Wächter nicht mehr schützen. Die Geschichte hat uns zahlreiche Beweise geliefert.

N: Welche Leser sind in der Lage, uns in unserer Entwicklung (die unserer Seele) zu helfen?

AD: Lesen Sie alles, was Sie wollen und alles, was ihnen gefällt. Man muss schon dankbar sein, dass man lesen kann. Man muss vor allem überlegen, was man liest. Jede Linie irgendeines Buches muss überlegt sein, sogar bei den Krimis.
Kommentar eines Blog-Lesers: Ah, Sie sind auch ein Teil dieser Korruption… Also dann, mein Magister (so nennt man sich in diesen Spielen), vergessen Sie folgendes nicht: «Suchen Sie den Idioten nicht bei ihrem Gesprächspartner! Wenn Sie ihn unbedingt sehen wollen (diesen Oberidioten), müssen Sie lediglich einen Blick in ihren Spiegel werfen».