Interview mit Wodolaskin

Evguey VodolazkineAls Fortsetzung in der Serie über den Austausch der Standpunkte von Persönlichkeiten aus St. Petersburg hat Nochlezhka dieses Mal den Schriftsteller und Literaturkritiker Ewgeni Wodolaskin getroffen.
Forscher an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Ewgeni Wodolaskin ist der Autor des Buches «Die vier Leben des Arseni», das 2013 den prestigeträchtigen Bolschaia Kniga-Preis erhielt.
Hier die Themen, die Nochlzehka Ewgeni Wodolaskin unterbreitet hat.
Auf welche Art kann der Staat alleinstehende Personen beschützen und davor zu bewahren, dass diese auf der Strasse leben müssen?
Weshalb werden die Russen sensibler für das Unheil der andern? Welches sind die Gründe für den Erfolg des Romans «Lawr», der die Wohltätigkeit beschreibt? Welches sind ihre Bemerkungen zum Literaturprogramm an den Schulen und weshalb ist es wichtig, lesen und schreiben zu können?

«Das Leben ist grausam»

Nochlezhka: Die Geschichte des Nikolai K. zeigt uns, wie leicht sich selbst überlassene Kinder und Jugendliche Opfer von Kriminellen werden. Der Staat nimmt seine Rolle als Beschützer nicht wahr.
Als Folge eines Traumas bei der Geburt leidet Nikolai K. an psychischen Störungen. Seine Familie kümmert sich wohl um ihn, aber nach dem Tod seiner Eltern ist er allein und schliesst sich zwei Dieben an, die ihm Drogen verabreichen, ihm seine Identitätspapiere (Propiska) stehlen und ihn zwingen, den Verkaufsvertrag für seine Wohnung zu unterschreiben.
Nikolai gelingt die Flucht. Er wohnt in Heimen und landet vor kurzem bei Nochlezhka. Unsere Juristen arbeiten zur Zeit daran, die betrügerische Immobilientransaktion anzufechten und seine Identitätspapiere zurückzubekommen.

Nochlezhka: Im allgemeinen landen alleinstehende Personen auf der Strasse, weil sie das Bedürfnis haben, mit jemandem Kontakt zu haben und sie niemanden kennen, der sie beschützt. Kann man ihnen helfen, diesem Schicksal zu entrinnen?

Ewgeni Wodolaskin: Ich befürchte, dass dies sehr schwierig ist, weil das Leben grausam ist. Man kann den Leuten helfen, sie vor gewissen professionnellen Missbräuchen schützen, aber was soll man tun, wenn die Leute Kontakte zu andern suchen und dabei Betrüger vertrauen? Man kann sie nie ganz davon abhalten, man kann mit ihnen sprechen – ja, aber verbieten kann man es nicht. Man kann den persönlichen Willen nicht durch jenen des Staates ersetzen.

N: Aber kann man nicht darauf beharren, dass die staatlichen Institutionen aufmerksamer sind bezüglich Immobilien-Transaktionen, bei denen alleinstehende und beeinträchtigte Personen involviert sind?

E W: Sicher ist dies unabdingbar, aber auf welche Art? Das ist das Problem.
Im Allgemeinen haben jene, die eine solche Transaktion legalisieren, eine grosse Erfahrung und passen im Fall von Betrügen auf, wenn der Verkäufer krank oder unter Drogeneinfluss steht. In diesen Fällen spielt jedoch die Intuition. Wie dieses Gefühl in der Verfassung festlegen? Vielleicht könnte man angepasste Klauseln finden.
Übrigens weigern sich gewisse Länder, ohne Begründungen Visas auszustellen. Sie stützen sich dabei ausschliesslich auf Verdachtsmomente.

«Die Wohltätigkeit wird zu einer Qualität, die von unserer Gesellschaft aktepiert wird«

N: Die Hilfe für die Obdachlosen ist eines der unpopulärsten Themen der Wohltätigkeit, der Refrain «das ist ihr eigener Fehler» ist weitverbreitet. Zudem hilft man weniger gerne den Erwachsenen.$
Denken Sie, die russische Gesellschaft sei karitativ und sei einverstanden, dass die Wohltätigkeit zur Norm wird und Teil unseres Lebes ist?

E W: Noch vor wenigen Jahren hatte ich den Eindruck, unsere Gesellschaft sei im Vergleich zu westeuropäischen Ländern wie beispielsweise Deutschland nicht sehr karitativ.
Aber die Erfahrungen der letzten Jahre haben meine Meinung verändert. Man kann jetzt am Fernsehen Aktionen zugunsten kranker Kinder sehen, die Leute machen mit.
Früher misstraute man solchen Sachen, weil dabei viel Betrug vorkam und viel gelogen wurde. Wenn aber eine Institution mit einem guten Ruf teilnimmt – da haben die Leute Vertrauen und reagieren. Zudem handelt es sich um kleine Beträge, jedermann kann 100-200 Rubel senden. Früher schämte man sich, so wenig zu spenden.
Diese Form von Wohltätigkeit zeigt, dass unser Volk bereit ist, zu helfen. Man findet das Geld, damit kranke Kinder ins Ausland reisen können oder um Organe für Transplantationen zu beschaffen. Das ist alles sehr teuer.
Ich bin überzeugt, dass unsere Landsleute auf jeden Fall nicht schlechter sind als die Bürger anderer Länder. In einem gewissen Sinn verdienen sie mehr Lob, weil sie an diesen Aktionen trotz ihren finanziellen Problemen mitmachen.
Unser Volk hat sehr gelitten. Jemand, der gelitten hat, hat ein gutes Herz und ist offener für die Leiden der andern.
Ich könnte von meiner Erfahrung als Schriftsteller erzählen: Als ich begonnen habe, den Roman über die Wohltätigkeit «Lawr» zu schreiben, dachte ich, dass niemand dieses Buch lesen würde, weil das Thema nicht Mode war. Jetzt stelle ich aber fest, dass ich meine Mitbürger unterschätzt habe, der Roman ist ein Bestseller geworden.
Ich habe begriffen, dass man die richtige Intonation finden muss, um darüber zu sprechen, Geschmacklosigkeiten zu vermeiden, nicht zu jammern, sondern einfach ganz normal über diese Dinge zu schreiben.
Zur Zeit gebe ich keine Interviews und reise nicht. Die Ausnahme bilden die Bibliothek für Blinde und Nochlezhka, da dies Institutionen sind, wo man zuerst hingehen muss. Hier geht es nicht mehr um die Literatur, sondern um Leben.

«Hier geht es nicht mehr um die Literatur, sondern um Leben»

N: Weshalb wurde ihr Buch so populär trotz seinem Thema und seinem Diskurs?

E W: Was die Sprache anbetrifft, geht es wie gesagt darum, die gute Intonation zu finden. Die Geschichte handelt von einem sehr unglücklichen Mann, der seine Geliebte verloren hat. Dieses Ereignis hat den Lauf seines Lebens bestimmt. Der Mann ist kein Heiliger, sondern ein Lebewesen mit seinen Sünden und seinen Problemen, aber auch mit seinen Lösungen.
Die Sprache ist ein Versuch, eine Geschichte aus dem Mittelalter in unser heutiges Leben zu transferieren.

N: Was muss man tun, damit die Kinder mit dem Gefühl aufwachsen, dass die Wohltätigkeit eine Lebensnorm ist, dass die Hilfe für die andern eine normale Geste ist? Muss man auf Schulprogramme zurückgreifen?

E W: Es handelt sich nicht um ein Programm, dies ist ein abstossendes Wort. Die Schulen müssten an diesem Prozess teilnehmen, aber dies ist nicht das Wichtigste.
Es braucht eine normal funktionierende Familie; die Familie ist die Basis, auch in einem Land mit Problemen wie unseres.
Wenn eine Person die Wohltätigkeit und die Liebe in der eigenen Familie erlebt, wird dies zu einer Lebens- und Zusammenlebensnorm. Man muss deshalb bei der Familie beginnen, sie ist wichtiger als alle staatlichen Institutionen.
Wenn man bei diesem Thema von einem Problem der Gesellschaft spricht, was ist denn das Schreckliche der Revolutionen, der Kriege, etc?
Es ist vor allem die Tatsache, dass eine solche Situation die düstersten Kräfte wieder emporkommen lässt wie zum Beispiel die Furcht, eingesperrt, von der Gesellschaft ausgestossen zu werden. In einer normalen Gesellschaft kommen diese bösartigen Aspekte nicht zum Ausdruck.
Eine Katastophe genügt aber, damit diese wieder an die Oberfläche kommen; wir können dies heute in der Ukraine beobachten.

Die Literatur ermöglicht es, den tiefengründigen Sinn der Dinge zu erfassen

N: Meine Mutter ist Professorin für Russisch an der öffentlichen Schule in der Region Leningradskaia. Gemeinsam mit ihren Kollegen stellt sie fest, dass die Kinder immer weniger lesen. Die Eltern beklagen sich, demgegenüber hilflos zu sein.
Die Kinder sind anders geworden, die Anforderungen an sie ändern jedoch seit Jahrzehnten nicht. Was tun, damit die Kinder wieder mehr lesen? Oder müssen wir akzeptieren, dass diese Feststellung das Resultat des technischen Fortschrittes ist? Müssen wir in diesem Sinne die Anforderungen an die Schule ändern?

E W: Zweifelsohne müssen wir in Erwägung ziehen, dass die Kinder nicht lesen, dies heisst aber nicht, dass wir dies akzeptieren. Die Texte, welche unser nationales Gewissen bilden, die aus literarischer und historischer Sicht wichtig sind, dürfen nicht von der Schule verschwinden. Sie haben dort ihren Platz, selbst wenn sie vielleicht nicht gelesen werden.
Mein Lehrer, Herr D.S. Lichatschew, sagte, dass selbst jene, die nicht lesen, sich Bücher kaufen müssen. Paradox, aber wahr. Sie gehen hundert Mal am Gestell vorbei, wo sich das Buch befindet. Beim hundert und einten Mal werden sie es herausnehmen und lesen.Man darf aber ja das Schulniveau nicht senken, nicht die Zusammenfassungen der grossen Werke in den Lehrplan einführen. Dies ist eine Schändung, besser liest man einen Auszug aus einem grossen Werk als eine Umschreibung.
Ich bin überzeugt, dass man das Programm nicht ändern darf, es muss klassische Werke der russischen Literatur enthalten. Der Professor muss diese Werke weiterhin in der Klasse unterrichten, dies im Wissen, dass nur eine Minderheit sie liest.
Die Jungen werden nach einer kurzen Periode, dem Jugend-/Teenageralter, wieder zum Lesen zurückfinden. Ein Moment wird kommen, in dem sich diese Person seine empirische Erfahrung aneignen muss. Jetzt wird sie sich den Büchern zuwenden, weil die Literatur ihm ermöglicht, den tiefgründigen Sinn der Dinge zu erfassen.

N: Trotzdem, es gibt doch Leute, die nie lesen.

E W: Gemäss Statistiken lesen 31% oder 32% der Bevölkerung unseres Landes überhaupt nicht. Sie schauen Fernsehfolgen an, sie spielen elektronische Spiele; Tatsache ist, dass ein grosser Teil der Bevölkerung nicht nachdenkt, man kann niemanden zwingen. Aber jene, die sich für den Sinn des Lebens interessieren, sie lesen.
Die Literaturprofessoren müssen deshalb ihre Arbeit fortsetzen in der Überzeugung, dass aus den von ihnen gesäten Körnern Triebe wachsen, selbst wenn Jahre vergehen, bis man Resultate sieht.
Die Ära der Computer und die audiovisuelle Wahrnehmung wird nichts verändern. Das Wort wird immer im Zentrum der Kultur sein.

N: Glauben Sie, dass das Buch in der Lage ist, den Menschen und folgedessen die Welt zu verändern?

E W: Ich glaube, dass das Buch den Menschen verändern kann. Wenn er die richtigen Fragen stellt, hilft er uns, uns zu verstehen, uns kennenzulernen, die richtigen Antworten zu finden und unser eigenes Leben aufzubauen.

Wenn wir unsere Sprache vernachlässigen, werden wir am Ende brüllen

N: Welche grundlegenden Bücher können Sie nennen, Bücher, die für unsere geistige Entwicklung wichtig sind?

E W: Sie sind zahlreich, ich würde die klassische russische Literatur vorschlagen. Sie ist einmalig in ihrer Art, eine Literatur auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Sie stellt mit einer unglaublichen Kraft die moralischen Fragen.
Es geht aber nicht nur um russische Schriftsteller, eines meiner bevorzugten Bücher ist «Robinson Crusoe» von Daniel Defoe. Es ist die Geschichte des verlorenen Sohnes. Der Mann befindet sich auf einer verlassenen Insel, erleidet eine Vielzahl von Missgeschicken und Prüfungen, um schlussendlich sein Zuhause zu finden.
Dieses unentbehrliche Buch kann man schon als Kind lesen, ganz im Gegensatz zu den Romanen von Tolstoi und Dostoiewski.

N: Wozu dient die Aktion «Das totale Diktat»? Weshalb muss man lesen und schreiben können?

E W: Dies ist sehr wichtig für jemanden, der seine Sprache und seine Kultur liebt. Via Telefon oder Skype zu sprechen, ist nicht das einzige Kommunikationsmittel.
Die Sprache formt unser Gewissen. Um unsere Verbundenheit mit unserer Sprache auszudrücken, müssen wir deren Gesetze respektieren und korrekt schreiben. Man kann die Sprache mit dem Skalpell des Chirugen vergleichen. Man benötigt es jeden Moment, es muss deshalb sauber und in gutem Zustand sein.
Wenn wir die Sprache vernachlässigen, wird dies zu einem schlechten Ende führen, schlussendlich werden wir brüllen. Wir bewegen uns eindeutig in dieser Richtung.

N: Ihr Roman endet mit dem Dialog zwischen einem Schmied und einem deutschen Händler:

  • Du hast mehr als ein Jahr bei uns verbracht und hast nichts begriffen.
  • Und Sie selbst, begreifen Sie dieses Land?
  • Nein, nein, sicher nicht.

Glauben Sie, dass es einen russischen Weg gibt, der speziell, verschieden von den andern ist.

E W: Ich denke, dass jedes Land seinen eigenen Weg einschlagen muss, sogar Luxemburg und Liechtenstein. Jedes Volk hat seine Eigenaheiten, die seinen Weg im Laufe der Geschichte beeinflussen.
Man muss folgendes begreifen: dies ist unser Leben, man muss ihm folgen und unser Möglichstes tun, um seinem Nächsten und seinem Land zu helfen. Dabei müssen wir sehr aufmerksam bleiben, dass unserem Weg und unserem Land Respekt gebührt.
Von einigen Ausnahmen abgesehen, umfasst die russische Geschichte die Eingliederung anderer Völker in die russische Welt. Und dieser Prozess verlief im allgemeinen positiv.
In den meisten Fällen haben sich diese Völker aus eigenem Antrieb mit Russland verbunden. Das heisst, dass der eingeschlagene Weg ihnen zusagte, nichts besonders an sich hatte und sie ihn schlussendlich adoptierten.
Der Ausdruck «ein spezieller Weg» hinterlässt den Eindruck, das man etwas besseres ist als die andern. Man muss jedoch begreifen, dass dies nicht nur ein einfacher Weg ist und sich entlang dieser Strecke irgend etwas ereignen kann.
Das Wesentliche ist, dass sich die Liebe zu seinem Volk nicht zur Ablehnung anderer führt.